„Katastrophenvorsorge ist so wichtig wie die Hilfe“
Neue Herausforderungen: DRK-Präsident Dr. Rudolf Seiters über Klimawandel, Zuwanderung und Gaffer - im Gespräch mit dem Weser Kurier (9. November 2017). Frage: Herr Seiters, in Bonn tagt seit Montag die Weltklimakonferenz. Ist der Klimawandel auch für die Arbeit des DRK eine Herausforderung?
Dr. Rudolf Seiters: Der Klimawandel ist auch für uns eine große Herausforderung, weil wir seit langem sehen, dass Fluchtbewegungenund die Gefährdung von Menschenleben in der Welt auch mit Auswirkungen des Klimawandels zusammenhängen. Deshalb haben wir uns in Gesprächen mit der Politik immer dafür eingesetzt, dass die vereinbarten Klimaschutzziele eingehalten werden. Schwerpunkt der humanitären Arbeit des DRK ist aber die Anpassung an den Klimawandel.
Frage: In den Pilotländern Bangladesch, Peru und Mosambik
verfolgt das DRK einen innovativen Ansatz. Es wird ein Frühwarnsystem auf der Grundlage von Extremwetter-Vorhersagen installiert, um Vorsorge vor der eintretenden Katastrophe betreiben zu können. Wie muss man sich das
konkret vorstellen?
Dr. Rudolf Seiters: Das DRK hat sich seit Jahren für einen Paradigmenwechsel in der humanitären Hilfe eingesetzt. Der Fokus lag lange Zeit auf der bloß reaktiven Nothilfe. In den Pilotländern liegt der Schwerpunkt neben der Frühwarnung insbesondere auf vorab genau definierten Maßnahmen wie Evakuierungen, Verteilung von Hilfsgütern und Sicherung von Eigentum bereits vor der Katastrophe. Dieser neue und auf interdisziplinärer Zusammenarbeit zum Beispiel von Wetterdiensten, Katastrophenschutzbehörden und dem Roten Kreuz beruhende Ansatz ergänzt die klassische Katastrophenvorsorge. Wir haben seit langem gesagt: Ein Euro Katastrophenvorsorge ist genauso wichtig wie fünf Euro Katastrophenhilfe. Wenn wir die Menschen befähigen, sich auf künftige Katastrophen einzustellen, dann können sie sich besser schützen. Ein Beispiel: Ich war in Orissa, einem Bundesstaat im Süden Indiens, wo über viele Jahre lang die Wirbelstürme Zigtausende Menschen in den Tod gerissen haben. Vor mehr als 20 Jahren begann dort ein spezielles Programm von DRK und der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Während die kfw große Sturmschutzbauten errichtete, kümmerte sich das Rote Kreuz um die Mobilisierung der Bevölkerung und die Nutzung und Instandhaltung der Gebäude. Seither sind bei den Wirbelstürmen kaum noch Menschenleben zu beklagen.
Frage: Ziel solcher Hilfen ist es auch, die Lebensbedingungen in den
Herkunftsländern von Flüchtlingen zu verbessern und damit weitere große
Migrationsbewegungen zu verhindern. Die Politik redet schon seit vielen
Jahren über dieses Ziel. Wird es nach den Erfahrungen von 2015 nun
ernsthafter verfolgt?
Dr. Rudolf Seiters: Die Arbeit des Roten Kreuzes ist eine humanitäre. Das Ziel ist somit, Menschen überhaupt wieder die Wahlmöglichkeit zu geben, sich nicht auf den Weg in andere Länder machen zu müssen. Man hat allerdings in der Tat lange Zeit nicht beachtet, was sich an Not, Elend und Verzweiflung in der Welt zusammenbraut. So waren Deutschland und Europa weitgehend unvorbereitet, als 2015 Hunderttausende von Menschen nach Europa strömten. Wenn man die Erfahrung von 2015 gemacht hat, dann muss man ohne jeden Zweifel die Forderung an die Politik richten, eine gemeinsame europäische Antwort für die Bekämpfung der Fluchtursachen zu finden. Natürlich bedarf es auch einer verstärkten finanziellen Hilfe durch die Vereinten Nationen und die wirtschaftlich starken Länder, um die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern zu verbessern. Im Übrigen muss auch alles getan werden, um Rückführungsabkommen mit diesen Ländern abzuschließen. Diese Dinge müssen geschehen, damit wir überhaupt die Aufgabe der Integration
leisten können. Wenn wir nicht differenzieren zwischen denen, die einen individuellen Asylgrund haben und denen, die aus anderen Gründen nach Deutschland kommen, dann werden wir die Integration der Zuwanderer nicht schaffen.
Frage: Was kann das DRK ausrichten, um den Menschen in den
Herkunftsländern eine Perspektive zu geben?
Dr. Rudolf Seiters: Wir können keine politischen Entscheidungen im engeren Sinne treffen. Aber wir können im Rahmen unserer Möglichkeiten mit vielerlei Maßnahmen helfen. Wir haben zum Beispiel in den vergangenen Jahren Hilfsgüter in einer Größenordnung von mehr als 100 Millionen Euro nach Syrien gebracht. Insgesamt arbeitet das DRK mit den Rotkreuz- oder Rothalbmondgesellschaften in rund 50 Ländern zusammen, vor allem auch in Krisenländern wie Jemen, Irak, Sudan und Somalia. Wir können glücklicherweise auf eine Unterstützung unserer Arbeit durch das Auswärtige Amt zählen. Das setzt auch deshalb auf uns, weil wir streng nach den humanitären Grundsätzen arbeiten und über unsere Schwesterorganisationen in allen Ländern eine gute Basis vor Ort haben. Was machen wir konkret? Im Libanon und im Irak beispielsweise haben wir Nahrungsmittelpakete, Hygieneartikel, Heizöfen
und Decken zu den Menschen gebracht. Im Sudan und in Uganda kümmern wir uns um die Grundbedürfnisse, betreiben aber auch Sonderprogramme gegen dieMangelernährung von Kleinkindern. Wir maßen uns nicht an, dass wir die Welt retten können. Aber wir können an vielen Punkten in der Welt vielen, vielen Tausenden von Menschen ganz konkret helfen und in Notsituationen ein Stück Menschenwürde zurückgeben.
Frage: Das DRK hilft auch den Flüchtlingen, die nach Deutschland gekommen
sind. Häufig werden sie von jungen Menschen unterstützt, die beim
Bundesfreiwilligendienst mitmachen. Der BFD ist vor sechs Jahren furios
gestartet. Jetzt ist es um ihn ruhiger geworden. Sind die sogenannten Bufdis
immer noch eine Erfolgsstory?
Dr. Rudolf Seiters: Wir sind heute mit mehr als 12 000 Plätzen im Freiwilligen
Sozialen Jahr der größte Anbieter Deutschlands. Zusätzlich haben wir Tausende
anderer Plätze im Bundesfreiwilligendienst und in den freiwilligen Diensten im
internationalen Bereich. Wir stellen fest, dass dieses Programm sehr gut
angenommen wird: Bei uns kommen auf einen Platz etwa drei Bewerber. Der
Ausbau des freiwilligen Dienstes gehört zu den wichtigsten Forderungen, die wir an die Politik der nächsten Jahre richten.
Frage: Warum tut sich die Politik so schwer mit dem Ausbau der
Freiwilligendienste?
Dr. Rudolf Seiters: Manchmal ist die Politik etwas schwerfälliger als die
Organisationen, die vor Ort mit den Problemen konfrontiert werden. Es ist ein Lob für die Politik, wenn ich sage, diese Freiwilligendienste sind ein Erfolgsprojekt. Und gerade weil dieses Erfolgsprojekt ein noch größeres werden könnte, hoffen wir auf die Einsicht der Politik, sich hier verstärkt zu engagieren. Ich sehe durchaus Chancen, dass uns das gelingt.
Frage: Kommen wir zu einem ganz anderen Problem – den Gaffern bei
Rettungseinsätzen. Am vergangenen Freitag gab es den schockierenden Fall
vor einer Berliner Kita: Ein 23-Jähriger behindert Sanitäter, die um das Leben eines kleinen Kindes kämpfen. Hier in Bremen gab es im August einen
größeren Zwischenfall: 130 Gaffer behindern nach einem schweren
Verkehrsunfall in Gröpelingen massiv die Polizei und die Rettungskräfte. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Dr. Rudolf Seiters: Leider gibt es in bestimmten Bereichen unseres Lebens eine Art von Verrohung der Sitten. Deswegen muss der Staat sicherstellen, dass diejenigen, die in unverantwortlicher Weise die Helfer angreifen oder an ihrer Arbeit hindern, zur Rechenschaft gezogen werden – und zwar mit aller Härte des Gesetzes.
Frage: Oft filmen Gaffer am Unfallort mit ihren Handys, später werden die Filme in sozialen Medien gepostet. Müsste die Politik nicht durchgreifen und die Anbieter der Netzwerke zwingen, solche Aufnahmen schnell zu löschen? Damit würde der Anreiz für die Jagd nach solchen Bildern entfallen.
Dr. Rudolf Seiters: Wenn ich den Blick auf die sozialen Netzwerke lege, dann ist manches schon sehr, sehr grenzwertig. Ich will es mal so sagen: Ich bin heute heilfroh, dass es in der sensiblen Situation von 1989/90 - als wir uns auf den Weg zur Wiedervereinigung machten und wir als Politiker in unseren Äußerungen viel Rücksicht auf die Befindlichkeiten in Moskau, Washington, Paris und London nehmen mussten - Facebook und Twitter noch nicht gegeben hat. Man muss sich einmal vorstellen, wenn sich damals alle möglichen Leute ausgetobt hätten – etwa mit Beleidigungen in Richtung Ostberlin oder auch umgekehrt. Das wäre schlimm gewesen.
Frage: Sie sind seit 2003 Präsident des DRK, am 1. Dezember treten Sie mit 80 Jahren ab und übergeben das Amt an die CSU-Politikerin Gerda Hasselfeldt. Wie schwer fällt Ihnen dieser Schritt?
Dr. Rudolf Seiters: Ich habe meinem Verband schon vor anderthalb Jahren erklärt, dass ich nach 33 Jahren Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag und 14 Jahren Präsidentschaft im DRK mich gerne ein bisschen zurückziehen möchte, um mich einigen kleineren Aufgaben zu widmen. Ich bleibe aber natürlich dem Roten Kreuz verbunden. Die ehrenamtliche Arbeit für das Rote Kreuz war und ist für mich fast ein Fulltime-Job. Aber er hat mir auch sehr viel Spaß gemacht.
Frage: In den 14 Jahren an der DRK-Spitze haben Sie viel gesehen und erlebt. Was waren ihre bittersten Erfahrungen?
Dr. Rudolf Seiters: Natürlich gab es viele bittere Momente, etwa wenn ich an die Fülle der Naturkatastrophen denke und an das Elend, das ich in Flüchtlingslagern gesehen habe.
Frage: Und Ihre schönsten Erfahrungen?
Dr. Rudolf Seiters: Es gab sehr anrührende Erlebnisse. In Haiti zum Beispiel, nach dem großen Erdbeben 2010, sind in den DRK-Zelten 2500 Babys geboren worden. Ein weiteres Beispiel: Ich war mit unserer DRK-Botschafterin Maybrit Illner zusammen in Lesotho, das ist das Land mit der weltweit höchsten Aids-Quote. Wir sind mit mehr als 100 Waisenkindern zusammengetroffen, die mit Hilfe des DRK von anderen Familien aufgenommen wurden, damit sie wieder Brüder und Schwestern hatten und eine neue Perspektive für ihr Leben bekamen. Jedes dieser Kinder hatte ein Kästchen in der Hand, darin bewahrte es Erinnerungen an seine an Aids gestorbenen Eltern auf. In dem Moment habe ich gemerkt, was man mit vergleichsweise wenig Geld machen kann, wenn es richtig eingesetzt wird. Das war ein wunderbares Erlebnis. Insgesamt kann ich nur sagen: Ich habe in diesen 14 Jahren viele Menschen kennengelernt, die sich ohne große Ehrungen ehrenamtlich eingesetzt haben, etwa bei der Blutspende, in der Sozialarbeit oder bei der Integration von Flüchtlingen. Vor diesen Menschen habe ich größten Respekt. So lange es diese Kultur des Helfens gibt in Deutschland, so lange hat dieser Staat auch
eine gute Zukunft.